Dauerhaft Systemrelevant

Wir sind Medizin, Raumpflege, Psychologie und Polizei in einer Person.

Lin fühlt sich bei der Arbeit in einer Wohngruppe von der Führungsebene allein gelassen, nicht nur in der Corona-Zeit:

Ich arbeite seit drei Jahren in einer großen Wohngruppe (Heim). Ich bin gelernte*r Sozialpädagog*in und arbeite als Bezugsbetreuer*in mit den Jugendlichen. Wir erleben starken finanziellen Druck, der immer nach unten weiter gegeben wird.
Da die Stimmung im Haus durch schlechte Arbeitsbedingungen und steile Hierarchien dementsprechend schlecht ist, ist die Fluktuation hoch. So entsteht ein dauerhafter Personalmangel in einer Einrichtung, die 365 Tage im Jahr 24 Stunden geöffnet hat, was meistens Überstunden bedeutet. Überstunden werden uns grundsätzlich nicht bezahlt und ab einer Gesamtmenge von 25 Stunden im Jahr gänzlich gestrichen.
Heißt: Auch der Personalmangel wird nicht von verantwortlichen Leitungspersonen ausgebadet, sondern von der kleinen Basis. Meine Bezahlung orientiert sich am Erzieher*innengehalt und mein Bachelor wird im Gehalt nicht berücksichtigt. Ich verdiene damit bei einem 30-Stunden-Vertrag ca. 1.600€ Netto – Zulagen schon mit eingerechnet. Das war auch schon vor der Corona-Krise so. Die aktuellen Hürden kommen da noch oben drauf.

Wir haben quasi kein realistisches Hygienekonzept. Es besteht eigentlich nur für das Papier und um die Leitung vor der Heimaufsicht zu schützen. Jugendliche und Mitarbeitende sind dazu angehalten, Mund-Nasen-Schutz zu tragen und sich die Hände zu desinfizieren. Die Fachkräfte selbst sind angehalten, das Haus abends zu desinfizieren und müssen dies auch unterschreiben und die volle Verantwortung dafür übernehmen. Wir haben zusätzlich noch eine Raumpflegekraft, die morgens desinfiziert.

Unsere Jugendlichen gehen nicht in die Schule. Die meisten sind arbeits- oder ausbildungslos, in Schulersatzmaßnahmen und haben keinen Schulabschluss.
Es ist kaum Verständnis für das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes vorhanden. Hinzu kommen psychische Erkrankungen und mangelnde Empathiefähigkeit, sodass manche Jugendliche auch in Bus und Bahn die Maske verweigern. Wir diskutieren und streiten also jeden Tag, um die Maßnahmen durchzusetzen.
Bei einer Quarantäne müssen sie sich 14 Tage lang in ihrem Zimmer aufhalten, was einen unzumutbaren Zustand für die Jugendlichen darstellt. Wir verstoßen dann gegen die Quarantäne und erlauben den Jugendlichen das Bewegen im Hof und im Treppenhaus. Dies nur mit Mund-Nasen-Schutz und zu bestimmten Zeiten, damit sie den anderen Jugendlichen nicht begegnen. Es gibt aber auch zahlreiche Fälle, in denen sich die Jugendlichen der Quarantäne entziehen und abgängig sind, da wir keine geschlossene Einrichtung sind. Die Bundespolizei verweigert die Rückführung der Jugendlichen. Auch hier müssen wir uns wieder selbst kümmern.

Wir fühlen uns im Stich gelassen – alleine gelassen – und wissen gleichzeitig, dass, wenn es aber mal schief gehen wird, wir dafür geradestehen müssen. Wir unterschreiben schließlich, dass wir desinfizieren und die Verantwortunng übernehmen. Wir sind also Medizin, Raumpflege, Psychologie und Polizei in einer Person.

Erfahrt Ihr Unterstützung durch eure Vorgesetzten? Berichtet uns davon auf: https://dauerhaft-systemrelevant.de/unterstuetzen/