Dauerhaft Systemrelevant

Der Träger, die Politik und auch das Gesundheitswesen ließen uns im Stich!

Beim Lockdown Nummer 1 hat Mika folgende Erfahrungen in der stationären Jugendhilfe gemacht und uns davon berichtet:

Ich arbeite in einer Jugendhilfeeinrichtung.
Zu Beginn der Pandemie fiel mir auf, dass das Thema nicht besonders ernst genommen wurde. Wir an der Basis beschäftigten uns eingehend mit den eventuellen Risiken und entwickelten gruppeninterne Lösungen, wie wir mit der Lage umgehen müssen. Der Träger sowie die Politik als auch das Gesundheitswesen ließen uns, gefühlt, bewusst im Stich.

Es gab keine offiziellen Verordnungen für uns, wie wir im Falle einer Infektion damit umgehen oder wie wir mit den Kindern/Jugendlichen weiterhin verfahren sollen. Es gab keine Masken, keine ausreichenden Mengen an Desinfektionsmittel oder zusätzliche Hilfe zum Erhalt, bzw. Steigerung der Hygiene. Als ein Jugendlicher zu husten begann und Symptome zeigte wurde nicht getestet, mit der Aussage: „Er wird erst getestet, sollte er starkes Fieber bekommen…Stellen Sie sich mal vor was los wäre, wenn ein positiver Fall in der Einrichtung festgestellt werden würde.“ Ich war fassungslos über so viel Ignoranz. Offiziell gab es in der gesamten Einrichtung keinen einzigen Fall von Corona, was ich mir bei einer Einrichtung mit ca. 400 Mitarbeiter*innen und einer durchschnittlichen Gruppenstärke von neun Kindern/Jugendlichen nicht vorstellen kann.

Es gab unzählige Fälle von überarbeiteten Kolleg*innen, verängstigten Kinder/Jugendlichen, Unverständnis bei Eltern etc. Zusätzlich zur individuellen privaten Situation musste jede*r Einzelne professionell daran arbeiten die Sicherheit, die pädagogische Arbeit, Homeschooling und Beschäftigungsangebote zu gewährleisten. Wie in so vielen Berufen war diese Zeit nicht einfach. Jedoch habe ich das Gefühl gehabt, dass die stationäre Kinder- und Jugendhilfe während dieser Zeit in keinster Weise beachtet wurde. Wir waren zu 100% auf uns allein gestellt. Leitungspersonen machten Homeoffice (was seine Berechtigung hatte), Haustechniker durften nicht mehr in die Gruppe, um Reparaturen durchzuführen und die Leute an der Front arbeiteten sich ab, bis der Körper oder die Psyche nachgab. Ich für meinen Teil konnte bis jetzt meine Energie beibehalten, jedoch nur weil meine mir Anvertrauten auf mich gezählt haben und ich meinen Auftrag sehr ernst nehme.

Es wurde mir jedoch sehr deutlich, dass unsere Adressat*innen, welche so oder so schon am Rande der Gesellschaft stehen, noch weiter dorthin gedrängt wurden. Sie sagten selbst, dass sie sich selbst nun noch unwichtiger fühlen, als sie sich eh schon wahrnehmen. Es fiel ihnen ebenfalls auf, dass über viele Berufsgruppen etc. berichtet wurde und dass sie mit ihren Familien und dem Fachpersonal, welches sich ihrer angenommen hat, nicht beachtet, sondern noch mehr ausgegrenzt wurden. Diese Zeit stellte uns alle vor neue Herausforderungen, welche bravourös gemeistert wurden – aber nicht weil wir unterstützt, motiviert oder bejubelt wurden. Sondern weil wir einer Profession nachgehen, dessen immense Bedeutung uns bewusst ist. Wir werden nicht nur für eine Dienstleistung vergütet. Wir schaffen Möglichkeiten ein Leben zu leben, welches inmitten der Gesellschaft stattfindet und nicht am äußersten Rand. Die Reflexionsarbeit mit den Kindern/Jugendlichen zeigte deutlich, dass sich alle zwischen Wut, Trauer, Depression und mehr bewegten – auch die Sozialarbeiter*innen und Erzieher*innen.

Selbstverständlich ist diese Pandemie für alle neu und eine schwierige Herausforderung. Es ist nicht zu erwarten, dass jede*r ins Rampenlicht gestellt wird. Aber nun ist es an der Zeit umzudenken und Fehler im System als Chancen zu nutzen, um die Menschen zu unterstützen, die es nötiger haben als z.B. der Adidas-Vorstand. Ich für meinen Teil wurde in dieser Zeit bissiger und motivierter wenigstens im Kleinen etwas zu verändern. Ich benenne Missstände klar und deutlich, womit ich natürlich auch anecke. Aber ohne klare, laute und professionelle Kritik wird sich nichts verändern.

Mittlerweile befinden wir uns im zweiten Lockdown und fragen uns: Erfährst Du in Deinem Arbeitsfeld dieses Mal mehr Unterstützung? Dann erzählt uns gerne davon unter: https://dauerhaft-systemrelevant.de/unterstuetzen/.