Dauerhaft Systemrelevant

Tagebuch einer rechtlichen Betreuerin: Teil 2

Conny hat uns noch einmal in den Alltag der rechtlichen Betreuung mitgenommen und am Beispiel eines Falls auch berichtet, welche Schwierigkeiten die Pandemie hier mit sich bringt:

Alles Peanuts, oder was? – Wer braucht schon einen rechtlichen Betreuer?

Prolog
In seinem früheren Leben hatte Herr Meissner eine (fast) ganz normale Familie mit Frau und Kindern. Er lebte in einer eigenen Immobilie und arbeitete im Rahmen seines Ausbildungsberufs in einem bekannten international tätigen Großkonzern. Die Bezahlung war ansprechend. Täglich machte er sich werktags mit dem Auto auf den Weg zur Arbeit.
Eines Tages geriet er aus ungeklärter Ursache in den Gegenverkehr und kollidierte mit einem entgegenkommenden Fahrzeug. Die Rettungssanitäter fanden Herrn Meissner neben seinem Fahrzeug sitzend vor. Der Unfall wurde untersucht. Es stellte sich heraus, dass durch den Unfall giftige Gase in das Fahrzeuginnere eingedrungen waren. Herr Meissner konnte das Fahrzeug zwar irgendwie verlassen, hatte aber schon eine große Menge davon eingeatmet.

Plötzlich war alles anders – Kampf zurück ins Leben
Ich übernahm die rechtliche Betreuung von Herrn Meissner. Zu diesem Zeitpunkt lebte er in einer vollstationären Einrichtung für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen. Er litt an Epilepsie, einer Halbseitenlähmung, einer zentralen Sprachstörung mit Wortfindungsstörungen erheblichen Ausmaßes, Orientierungs-, Konzentrationsproblemen und einer Einschränkung der Sehfähigkeit, die den Bereich, den er sehen konnte, stark verkleinerte. Die Betreuung wurde als „einfacher Fall“ vom Amtsgericht, das mich zur Betreuerin bestellte, dargestellt.
Ich lernte einen Menschen kennen, der mir von Angehörigen später als jemand beschrieben wurde, der schon immer sehr misstrauisch war und mit dem Kopf durch die Wand wollte. Dem Alkohol war er sehr zugetan, was zu familiären Problemen geführt hätte. Jetzt war das nicht mehr der Fall. Alkohol spielte in seinem Leben keine Rolle mehr, aber ohnehin sonst auch nichts mehr, was für ihn vorher normal war. Der Mann war jetzt ein gebrochener Mann. Die Frau ließ sich gerade scheiden. Die Kinder wollten keinen Kontakt mehr. Er konnte sich alleine nicht mehr versorgen und der Arbeit nicht mehr nachgehen. Hobbys, die er früher hatte, konnte er nicht mehr ausüben. Die Immobilie war inzwischen zwangsversteigert, sein Auto verschrottet und es hatten sich erhebliche Schulden angehäuft.
Die rechtliche Betreuung lehnte Herr Meissner ab. Er hatte bereits alles in seinem Leben verloren und „bekam mich nun vor die Nase gesetzt“. Er war auf größtmögliche Selbständigkeit und Selbstbestimmung bedacht. Bisher hatte er noch keine Akzeptanz seiner vorliegenden Einschränkungen aufbauen können. Er hasste sein Leben, aber auch jeden, der sich auch nur irgendwie einmischen könnte. So einen „Sozialfutzi“, der ihm die Welt erklärte, sein Geld einteilte und sagte, wo es langgehen sollte, wollte er nicht. Ich bekam u.a. den Aufgabenkreis der Vermögenssorge zugesprochen. Zudem wurde ein starkes Eingriffsrecht in seine Autonomie in Form eines Einwilligungsvorbehalts angeordnet. Das bedeutete, dass Herr Meissner nun bei allen finanziellen Angelegenheiten, die über kleinere Alltagsgeschäfte hinausgehen, meiner Zustimmung bedürfen würde.
Ich war daher gefordert, innerhalb eines sensiblen und zugewandten Auftretens, Vertrauen aufzubauen und zu ermitteln, welche Problemlagen, aber auch Wünsche vorliegen und wie ich Herrn Meissner unter größtmöglicher Selbstbestimmung, im Rahmen der mir vom Gericht übertragenen Aufgaben, unterstützen könnte.

Da Herr Meissner von seinen Schulden sowieso nichts wissen wollte und er Zeit haben sollte mich und meine Arbeit kennen zu lernen, begann ich mich zunächst einmal mit den Gläubigern auseinanderzusetzen, diese zu ermitteln, anzuschreiben, die Insolvenz zu beantragen und das Verfahren zu begleiten etc. Das Misstrauen wurde mit der Zeit weniger, in der wir uns begegneten und Herr Meissner fing wieder an Pläne für seine Zukunft zu machen. Er litt besonders unter der Kontaktverweigerung der Kinder, aber er entwickelte den Wunsch, wieder in eine eigene Wohnung zu ziehen. Wer schon einmal umgezogen ist, der weiß, was für ein großes Projekt das ist, zumal wenn es darum geht, eine geeignete Wohnung und Versorgung zu finden, die bei den vorliegenden Einschränkungen in Frage kommt. Wir haben uns oft getroffen, um zu Wohnungsbaugesellschaften zu fahren, die Wünsche für die nächsten Schritte abzustimmen und Absprachen zur Umsetzung zu treffen. Der Lebensunterhalt war zu sichern und die zur Umsetzung des Projekts erforderlichen Unterstützungsmöglichkeiten zu organisieren.
Der Umzug gelang. Nach einer schwierigeren Eingewöhnungsphase kommt Herr Meissner im Rahmen seiner Fähigkeiten gut in der Wohnung zurecht. Zur Bewältigung seines Alltags kann er inzwischen Unterstützung durch einen Pflegedienst, bei der Bewältigung des Haushalts auch eine ambulante Wohnbetreuung, zulassen und wertschätzend annehmen. Mit Hilfe der Wohnbetreuung konnte er lernen, sich in seinem neuen Umfeld zurechtzufinden und wichtige Wege zu Therapien, zu Ärzten, zum Einkaufen oder der Bank alleine zu bewerkstelligen. Er benötigt eine Einteilung des Haushaltsgeldes, die wir gemeinsam erarbeitet haben. Damit kann er sich gut alleine versorgen. Er hat wieder das Gefühl, selbstbestimmt leben zu können. Ich agiere, wenn erforderlich, in Absprache mit Herrn Meissner und unter Wahrung der gewünschten größtmöglichen Selbstbestimmung, aber dezent im Hintergrund. Läuft, würde ich sagen.

Epilog
Hey Corona, alles Peanuts? Who cares?
Und wieder ist plötzlich alles anders. Das Geldabheben am Geldautomaten gelingt Herrn Meissner nicht. Er ist darauf angewiesen, dies am Schalter zu erledigen und dann ist die Sparkasse vor Ort wegen des Corona-Lockdowns geschlossen. Der Einkaufsladen vor Ort führt, dank Hamsterkäufen einiger „weltvergessener“ Mitbürger*innen, leider nicht mehr alle Dinge, die Herr Meissner benötigt. Woanders kommt er nicht hin. Fremde Wege kann er schlecht oder gar nicht alleine bewältigen, weil die Orientierung eingeschränkt ist. Außerdem sind die Waren woanders teuer oder es werden nicht die gewohnten Produkte vorgehalten. Eine Maskenpflicht wird eingeführt. Das macht Herrn Meissner zu schaffen. Er ist, aufgrund einer Herzerkrankung, sowieso immer kurzatmig. Therapien werden ausgesetzt. Damit ist seine Tagesstruktur oder das, was davon noch übrig war, weggebrochen. Die Mitarbeiter*innen der ambulanten Dienste können sich nicht mehr wie gewohnt um die Belange und Wünsche des Betreuten kümmern, weil sie angehalten sind die Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Unser Büro schließt seine Türen für persönliche Kontakte innerhalb unserer Räumlichkeiten. Und da ist es wieder, das Misstrauen gegenüber allen anderen Menschen, die Einsamkeit, Verzweiflung, Wut und Trauer, weil Selbstbestimmung und Freiheit wieder eingeschränkt und massiv bedroht sind, gewohnte Abläufe und Strukturen gestört sind.

Und nun, Corona? We care! Wir Betreuer*innen sind gefragt, hier schnell Lösungen zu finden.

Musstest Du in Deinem Arbeitsalltag auch schnell neue Wege und Lösungen in der Pandemie finden? Berichte uns davon auf: https://dauerhaft-systemrelevant.de/unterstuetzen/